18.01.2020 | HeimatGenuss : Newsletter Januar

 

Vom Schienenstrang zum Schnürsenkel

 

Mit deren Untergang der DDR verlieren auch viele Menschen mit Beeinträchtigung ihren Job, Der Gleisbauer Ingolf Brückner gehört zu ihnen.

 

Selbsthilfe made in DDR

 

Sie mussten sich "Betreuungsgruppe" nennen, als sich 1987 in Halle MS-Betroffene zusammenfanden, um sich einander zu helfen. Doch der Begriff "Selbsthilfe" war unter der Arbeiter- und Bauernmacht unerwünscht, weil „Selbsthilfe ja bedeuten könnte; dass der Staat versagt habe“, erinnert sich das Ehepaar Faßhauer an diese Zeit.

 

Folgenschwerer Perspektivwechsel

 

Benjamin Schmidt macht es seinen Lesern und Zuhörern nicht leicht. Statt nur einen kontrollierten Blick durch den literarischen Lattenzaun zuzulassen, packt er sein Publikum am Kragen und konfrontiert es frontal mit seinem Alltag. Dieser Alltag wird äußerlich bestimmt von einem Rollstuhl. Der macht aus den Menschen Benjamin Schmidt den „Krüppel“ Benjamin Schmidt, wie er sich selbstironisch beschreibt.

Was uns behindert…

 

Im Gästebuch werden die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher aufgefordert, das niederzuschreiben, was sie persönlich behindert.
Ich finde, dass Behörden und Ämter ihre Schrift größer machen sollen. Und Ärzte.

 

 

Vom Schienenstrang zum Schnürsenkel

 

Im Jahr 1990 schlägt die letzte Stunde der DDR. Mit deren Untergang verändert sich auch radikal die Arbeitswelt. Die Volkseigenen Betriebe werden zum Auslaufmodell, Hunderttausende verlieren über Nacht ihren Job. Darunter viele Menschen mit Beeinträchtigung, die auf dem überschwemmten Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Ingolf Brückner gehört zu ihnen. Auch seine Geschichte findet sich in der Sonderausstellung des halleschen Stadtmuseums. Ingolf Brückner ist gelernter Gleisbauer. Ein Beruf, der ihn trotz seiner geistigen Beeinträchtigung bis zum Ende der DDR ernährt. Dann wird auch er arbeitslos. Heute lebt und arbeitet er unter dem Dach der Lebenshilfe Eisleben. Statt schwere Schienen zu tragen und einzubauen, fädelt der Mittfünfziger nun für das Eisleber Unternehmen EWS Schnürsenkel in Spezial-Schuhe für Feuerwehrleute. Das ist komplizierter, als es sich zunächst liest, denn das Besenkeln folgt einem ausgeklügelten System und benötigt im Wortsinne Fingerspitzengefühl.


Die deutsche Wiedervereinigung vor nunmehr 30 Jahren hat viele solcher Erwerbsbiografien wie die von Ingolf Brückner unterbrochen. Ihnen blieb dann vielfach nur Hartz IV oder die Beschäftigung in einer Behindertenwerkstatt. Deren Vorläufer gab es schon im Arbeiter- und Bauernstaat. So gründet sich bereits 1953 in Halle die erste Genossenschaft des Blindenhandwerks im Osten Deutschlands.

 

Heute sind in Deutschland mehr als 300.000 Erwachsene mit Behinderungen in solchen Werkstätten beschäftigt.

 

 

Selbsthilfe made in DDR
MS-Kranke organisieren sich erstmals in Halle


Edeltraud Faßhauer kann sich noch sehr genau an diesen Tag im Jahre 1980 erinnern. Da wurde zur Gewissheit, dass ihre Krankheit einen Namen hat: Multiple Sklerose. „Bei mir begann es mit Sehstörungen“, beschreibt die heute 72-Jährige ihre damaligen Symptome. Doch bis die Diagnose MS auch tatsächlich von den behandelnden Medizinern ausgesprochen wurde, vergingen einige Monate. Edeltraud Faßhauer ist selbst Ärztin und weiß natürlich einiges über diese chronische Entzündung der Nervenbahnen. Vor allem, dass keine Heilung, sondern nur Linderung zu erwarten sei. „Das war ein großer Schock!“ Doch unterkriegen will sich die zierliche Hallenserin nicht lassen, macht aus ihrer Krankheit auch kein Geheimnis, weder im Familienkreis, noch bei den Freunden und auch nicht an ihrer Arbeitsstelle in einem halleschen Krankenhaus. Das sprach sich herum.

 

Dabei stellt sich heraus, dass auch andere Betroffene oft nur sehr zögerlich von den Ärzten über ihren konkreten Zustand informiert werden. Zu groß sei wohl die Furcht gewesen, dass solche Diagnosen – ähnlich wie bei Krebs – zu Kurzschlussreaktionen führen könnten, mutmaßt Edeltraud Faßhauer heute über diese Praxis. Zudem sind die Therapiemöglichkeiten im Osten Deutschlands sehr begrenzt und erschöpften sich vielfach in Kortisongaben. „Es gab hierzulande nur wenig Literatur über diese heimtückische Krankheit mit den vielen Gesichtern“, beschreibt Edeltraud Faßhauer weiter die Situation in den 80er Jahren zwischen Kap Arkona und Fichtelberg. Die Ärztin nutzt deshalb die Möglichkeit einer Westreise, um sich mit einschlägiger Fachliteratur einzudecken. Das bringt ihr natürlich großen Ärger bei der Wiedereinreise ein: „Als die DDR-Grenzer meine Tasche filzten, wollten die sofort die Bücher und Broschüren beschlagnahmen.“ Edeltraud Faßhauer verlangt daraufhin couragiert ein detailliertes Beschlagnahmeprotokoll, das aber scheint den Sicherheitsorganen dann doch zu aufwändig. Sie darf passieren, mit den „gefährlichen Druckerzeugnissen aus dem Westen“.

 

Es spricht sich bald herum, dass es in Halle Menschen gibt, die sich engagiert und offensiv mit MS auseinandersetzen. Zu den regelmäßigen Treffen kommen bald schon 50 Betroffene. Da braucht es auch eine Organisation. Möglichkeit dazu gäbe es unter dem Dach der Kirche, aber das hätte wohl einige abgeschreckt, kommentiert Ehemann Wilhelm Faßhauer die damalige Idee, stattdessen einen MS-Club zu gründen, der dem Kulturbund der DDR angegliedert ist. Daraus ist dann die Selbsthilfegruppe entstanden. Die durfte sich aber unter der Arbeiter- und Bauernmacht nicht so nennen, weil „Selbsthilfe ja bedeuten könnte; dass der Staat versagt habe“. So nennt man sich Betreuungsgruppe. Die gründet sich 1987, als die erste ihrer Art in der damaligen DDR. Mit Rückendeckung durch den Bezirksarzt fließen sogar finanzielle Mittel aus der Staatskasse. Das reicht für Porto, Telefon und obendrein für die Bezahlung einer Sekretärin, die selbst an MS leidet. Zudem können eigene Informationsblätter gedruckt werden, die ersten zum Thema MS in der DDR, die dann auch republikweit verteilt werden.

 

Nach der Wende schließen sich die regionalen Gruppen Sachsen-Anhalts zu einem Landesverband der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG) zusammen. Wilhelm Faßhauer steht dem ein Viertel Jahrhundert vor, bis er im letzten Jahr sein Amt an die nächste Generation abgibt. Seine Frau Edeltraud lebt seit 40 Jahren mit ihrer Krankheit. Sie übt ihren Beruf bis zum 60. Lebensjahr aus und engagiert sich noch immer in der DMSG in der Zulassungsberatung von neuen Medikamenten. Betroffenen Menschen, die plötzlich mit der Diagnose MS konfrontiert werden, gibt die erfahrene Medizinerin vor allem diesen hoffungsvollen Rat: „Das Leben ist nach einer solchen Diagnose nicht zu Ende. Gehen Sie offensiv damit um, suchen Sie die Unterstützung bei der Familie und Freunden und nutzen Sie die professionellen Angebote. “

 

Hintergrund: In der Bundesrepublik leiden nach aktuellen Zahlen etwa 240.000 Menschen an Multipler Sklerose.

 

Über ihre Erfahrungen sprechen Edeltraud und Wilhelm Faßhauer am 30. Januar 2020, 18 Uhr, im Stadtmuseum Halle.

 

Folgenschwerer Perspektivwechsel

 

Benjamin Schmidt macht es seinen Lesern und Zuhörern nicht leicht. Statt nur einen kontrollierten Blick durch den literarischen Lattenzaun zuzulassen, packt er sein Publikum am Kragen und konfrontiert es frontal mit seinem Alltag. Dieser Alltag wird äußerlich bestimmt von einem Rollstuhl. Der macht aus den Menschen Benjamin Schmidt den „Krüppel“ Benjamin Schmidt, wie er sich selbstironisch beschreibt. Weit ab von Larmoyanz erzählt der gebürtige Pößnecker mit viel schwarzem Humor das Schicksal eines inkomplett Querschnittgelähmten. Vor mehr als zehn Jahren hat er selbst notgedrungen die Perspektive wechseln müssen, vom aufrecht gehenden zum sitzend rollenden Zeitgenossen. Die Beine versagen seitdem weitgehend ihren Dienst. Die Blase, der Darm und auch die Sexualfunktionen sind mehr oder weniger stark betroffen.


Heute ist Benjamin Schmidt 31 Jahre alt und schreibt sich in aller Unbescheidenheit den Frust von der Seele. Mit dem Buch „Schon immer ein Krüppel“ trifft er wie ein brutaler Zahnarzt den Schmerznerv des Lesers, hilft ihn aber meist auch wieder heraus aus dem Tal der Tränen. Dazu baut er eine Leiter aus bitterem Humor, auf der der Querschnittsgelähmte überraschend artistisch rumklettern kann. Nachzulesen auch in seinem jüngsten Büchlein, einer Sammlung erotischer Kurzgeschichten über Sexualität, Liebe, Selbstbestimmung und Behinderung. Der hintergründige Titel: „Fuck[dis]Ability".

 

Lesung „Schon immer ein Krüppel“ mit Benjamin Schmidt am 21. Januar 2020, 18 Uhr im Stadtmuseum Halle.

 

Was uns behindert…

 

Im Gästebuch werden die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher aufgefordert, das niederzuschreiben, was sie persönlich behindert.
Ich finde, dass Behörden und Ämter ihre Schrift größer machen sollen. Und Ärzte.

 

Weitere Infos unter  www.geschichten-die-fehlen.de

Pressebüro Lies
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