29.06.2020 | HeimatGenuss : Kinderlähmung-Newsletter
 
Ein kleiner Schluck rettet Leben    


Die Geschichte hinter der Geschichte: Pandemien sind keine Erfindung der Covid-19-Viren. Neben Kriegen und Hungerkatastrophen als Geißeln der Menschheit überziehen immer wieder ansteckende Erkrankungen den Globus. Mit oft tödlicher Präzision sorgen Pest, Cholera oder Spanische Grippe für großes Leid. Auch Kinderlähmung gehört auf diese Liste.

 

Dumme Fragen sind ausdrücklich erlaubt

 

Woher weiß der Blindenhund, dass eine Ampel grün ist? Wie hören taube Menschen Musik? Ist bei Rollstuhlfahrern alles niedriger in der Wohnung? Das ist nur eine Auswahl von DUMMEN FRAGEN, die Stadtmuseums-Besucher schon loswerden konnten.


Psyche, Kunst und Geschichten, die fehlen


Veranstaltungshinweis: Lesung und Gespräch mit den halleschen Autorinnen Christa Beau und Valeria Sivtsova

 

Die Geschichte hinter der Geschichte

 

Ein kleiner Schluck rettet Leben    

 

Pandemien sind keine Erfindung der Covid-19-Viren. Neben Kriegen und Hungerkatastrophen als Geißeln der Menschheit überziehen immer wieder ansteckende Erkrankungen den Globus. Mit oft tödlicher Präzision sorgen Pest, Cholera oder Spanische Grippe für großes Leid. Solange, bis der Mensch hinter die Geheimnisse solcher Krankheiten gekommen ist und sich wirksam schützen kann. Auch Kinderlähmung gehört auf diese Liste, eine Infektionskrankheit, die von Polioviren hervorgerufen wird und vor allem im Kindesalter auftritt. Viele überstehen die Infektion symptomlos, andere aber haben sich ein Leben lang mit bleibenden Lähmungen herumzuplagen. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der schließlich auf den Rollstuhl angewiesen war, gehört zu den prominenten Opfern.    


Auch die deutsche Medizingeschichte listet immer wieder Ausbrüche der Poliomyelitis auf. Als der hallesche Mediziner Richard von Volkmann 1870 eine Veröffentlichung über die Krankheit vorlegt, handelt es sich noch um eine Endemie mit unbekanntem Erreger. Schon etwa zehn Jahre später entwickelt sie sich zur epidemisch auftretenden Krankheit, die Jahrzehnte für Opfer sorgt. So beispielsweise 1932 mit über 3.000 neuen Fällen vorwiegend in Preußen. Auch im halleschen Stadtarchiv finden sich zahlreiche Verweise auf diese Krankheit. So wird beispielsweise 1927 von immerhin 54 Neuerkrankungen berichtet. Hier ist aber auch nachzulesen, wie der Virus besiegt werden konnte. Noch 1961 werden für Deutschland über 4.600 Fälle gezählt. Aber fast ausschließlich in der alten BRD, während die damalige DDR lediglich vier Neuerkrankungen melden muss. Sie erntet damit die ersten Früchte einer großangelegten Impfkampagne, die 1960 einsetzt. Die Schluckimpfung bringt die Erlösung von dieser Geißel.


„Das lief in Halle wie wohl auch in den anderen Großstädten der DDR generalstabsmäßig ab“, bewertet die Kulturwissenschaftlerin Susanne Feldmann ihre Recherchen für die Ausstellung Geschichten, die fehlen. Immerhin schlucken allein im Mai 1960 etwa 70.000 junge Menschen im Alter von 0 bis 20 Jahren in Halle den immunisierenden Impfstoff. Im Juni gibt es die nächste Kampagne, im Jahr darauf werden weitere 100.000 Kinder geschützt. „Ohne eine effektive Planung und mit einem engen Hand-in-Hand aller staatlichen Ressourcen, wäre das kaum denkbar gewesen.“ Geimpft wird oft in den Schulen und Kindereinrichtungen direkt, um möglichst lückenlos zu schützen. Mit Erfolg, schon 1964 gibt es im Osten Deutschlands keine neue Erkrankung und in den Folgejahren nur noch sehr selten eine Neuinfektion.  

 

Umso präsenter ist das Thema Kinderlähmung im Stadtmuseum in der Ausstellung Geschichten, die fehlen… Da erzählt Gisela Möbus über ihren Kampf mit der Krankheit, die sie im Alter von drei Jahren ereilt. Sie ist 1941 geboren und damit zu einer Zeit, als es noch keinen Impfstoff gibt und auch wenig Verständnis für Menschen mit Behinderung. Sie stemmt sich gegen ein Leben am Rande der Gesellschaft. Statt mit 16 Jahren in Rente zu gehen, studiert sie. Statt nach ärztlichem Rat auf Kinder zu verzichten, wird sie dreifache Mutter. „Ich habe mir meine Wünsche erfüllt!“, zieht die mutige Frau hochbetagt Bilanz.

 

Als sich der Maler Helmut Schröder (1910–1974) 1916 als Sechsjähriger infiziert, sind die Polioviren bereits entdeckt, doch es gibt keinen wirksamen Schutz. Ein gelähmter rechter Arm und eine gelähmte linke Hand sollen zeitlebens den Künstler an diese Krankheit erinnern. Von seinem Ziel, Maler zu werden, hat er sich dadurch nicht abbringen lassen. Er studiert an der Burg Giebichenstein und findet seinen Platz in der Kunstszene seiner Zeit, wie die in der Ausstellung zu sehenden Bilder belegen.

 

Einen weiteren interessanten Fund macht die Kuratorin des historischen Teils der Sonderausstellung bei ihren Stadtarchiv-Recherchen im Nachlass von Gerald Götting (1923-2015). Der Mitbegründer der CDU in Ostdeutschland nach dem 2. Weltkrieg ist zwischen 1966 und 1989 deren Vorsitzender. Geboren und aufgewachsen ist der Politiker in Halle. Sein Abitur legt er an den Franckeschen Stiftungen ab. Auf einem Klassenfoto von 1938 steht Götting im Kreise seiner Mitschüler, etwas abseits aber sitzt ein Gymnasiast auf einem Stuhl, dessen Beinschienen auf Kinderlähmung hindeuten. Auf einem früheren Foto von 1933 umringen die andern noch den Klassenkameraden mit Behinderung. „Das lässt schon Schlüsse zu, wie sich der Blick auf Menschen mit Beeinträchtigung unter der nationalsozialistischen Ideologie verändert hat.“

 

Doch der junge Mann macht trotzdem seinen Weg, studiert Jura und ist zu DDR-Zeiten lange Jahre als Richter am Kreisgericht Halle-Süd tätig. Das erfährt Susanne Feldmann von der Tochter Lothar Brosigs (1922–1991), die nach akribischer Suche ausfindig gemacht werden kann. Sie bestätigt, dass ihr Vater an Kinderlähmung erkrankt war und gibt auch die Erlaubnis, das denkwürdige Klassenfoto von 1938 in der aktuellen Sonderausstellung am Stadtmuseum Halle zeigen zu dürfen.

 

Dumme Fragen sind ausdrücklich erlaubt

 

PK Dumme Fragen 2Woher weiß der Blindenhund, dass eine Ampel grün ist? Wie hören taube Menschen Musik? Ist bei Rollstuhlfahrern alles niedriger in der Wohnung? Das ist nur eine Auswahl von DUMMEN FRAGEN, die Stadtmuseums-Besucher schon loswerden konnten. Dazu werden sie in der Sonderausstellung Geschichten, die fehlen aufgefordert. Die Resonanzdarauf ist beträchtlich. Die vielen Fragezeichen lassen ahnen, wie wenig bislang Lebensumstände und Erfahrungen von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Das soll sich ändern, sind die Ausstellungsmacher am Stadtmuseum überzeugt. Sie haben jetzt einige dieser Dummen Fragen auf Postkarten in Umlauf gebracht, um Neugier zu wecken und zu weiteren Fragen anzuregen. Die können nun ganz einfach an das Stadtmuseum Halle zurückgeschickt werden.
Die Antworten darauf gibt es zum Finale der Sonderausstellung Geschichten, die fehlen geben am 30. August 2020.  

 


Veranstaltungshinweis

 

Psyche, Kunst und Geschichten, die fehlen

Lesung und Gespräch mit den halleschen Autorinnen Christa Beau und Valeria Sivtsova

 

Christa Beau und Valeria Sivtsova kennen das Leben mit psychischen Erkrankungen aus dem eigenen Lebenslauf. Davon erzählen sie in der Ausstellung Geschichten, die fehlen. Sie haben aber auch Erfahrungen von anderen psychiatrieerfahrenen Menschen zu Papier gebracht. „Psychiatrie in Kurzgeschichten“ nennt Valeria Sivtsova ihre literarische Sammlung, bei Christa Beau steht das vielsagende Zitat „Ich könnte doch glücklich sein“ als Titel auf dem Buchrücken.

 

Was die beiden Frauen noch gemeinsam haben, ist das Talent zur künstlerischen Arbeit, das sich erst im Zusammenhang mit ihren Erkrankungen offenbarte. Welche Verbindungen gibt es hier?  Christa Beau und Valerie Sivtsova versuchen, dies auszuloten. Beide lesen am 7. Juli 2020, um 18.00 Uhr im Stadtmuseum Halle. (Eintritt: 3,00 €, einschließlich Besuch der Sonderausstellung ab 17.00 Uhr)

 

Hinweis: Aufgrund der Einhaltung der Corona-Hygieneregeln steht nur eine begrenzte Platzanzahl zur Verfügung. Wir empfehlen eine Anmeldung unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! bzw. telefonisch unter 0345-2213030.

 

Pressebüro Lies
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