28.07.2020 | HeimatGenuss : Newsletter Juli/August Inhalt
Newsletter Geschichten, die fehlen…
 
1. Gefragte Plattform – eine Zwischenbilanz
2. Reisen für alle - Stadtmuseum Halle wird zertifiziert
3. Mit eigenem Erleben Lücken füllen - Die Ausstellung hat Zuwachs bekommen
4. Dumme Fragen?
1. Gefragte Plattform – eine Zwischenbilanz


Bereits über 4.000 Besucher zählt die Sonderausstellung über Menschen mit Beeinträchtigungen, die noch bis zum 30. August im Stadtmuseum Halle zu sehen sein wird. „Wir wollen das Thema in die Mitte unserer Gesellschaft holen“, beschreibt Museumsleiterin Jane Unger ein wichtiges Anliegen dieser Präsentation. Dafür wurden genau 50 Geschichten ausgewählt, die bislang in der Stadtchronik fehlten oder dort nur wie nebenbei erwähnt werden. Das überrascht vor allem deswegen, weil sich in Halle schon frühzeitig Persönlichkeiten starkmachten für beeinträchtigte Mitmenschen. So wurden hier schon Hilfsvereine für Blinde gegründet, Schulen für Gehörlose eingerichtet oder Selbsthilfegruppen beispielsweise für MS-Kranke ins Leben gerufen, als das in anderen Regionen noch undenkbar gewesen war.

 

„Das hat mich schon sehr überrascht“, kommentiert Uwe Willamowski den historischen Teil der Ausstellung. Schon früh war der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes Halle e. V. eingebunden in Vorbereitung dieser ungewöhnlichen Museumsidee. In der Ausstellung finden sich ja auch aktuelle Lebensbilder von Menschen mit Beeinträchtigung. Darunter auch das von Uwe Willamowski. Dass diese Geschichten während der laufenden Ausstellung sogar weiter ergänzt werden, nennt der 50jährige einen weiteren Pluspunkt bei seiner persönlichen Zwischenbilanz.

 

Auch Nadine Wettstein bereichert mit einem Objekt die Ausstellung. Bei ihr ist es ein Buff, ein Stoffschlauch. Das bunte Textil verbindet die blinde Frau mit ihren Weggefährten. Denn damit lebt die passionierte Wanderin und Skifahrerin ihre Leidenschaft in der Natur aus. Ein schönes Beispiel dafür, wie die Ausstellung weniger die Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt rücken, sondern oft ganz andere, überraschende Seiten der beteiligten Menschen zeigen. Nadine Wettstein sieht darin eine wichtige Wertschätzung von Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich hier „einmal nicht gefangen im Fürsorge-Gedanken“ präsentieren können. Die 40jährige Frau weiß genau, wovon sie spricht, denn als Freie Dozentin für Inklusion setzt sie sich auch beruflich für vorurteilsfreie Begegnung zwischen Behinderten und Nichtbehinderten ein. Dazu wäre das Stadtmuseum Halle gegenwärtig ein wunderbarer Ort. Sie selber habe hier viele Menschen getroffen, viele Lebensgeschichten erfahren können, die ihr ohne diese Ausstellung verborgen geblieben wären. Obwohl sie sich sehr für das Thema engagiert. „Dass das Museum die Gelegenheit nutzt, für solche Begegnungen eine Plattform zu bieten, finde ich nachahmenswert“, freut sich Nadine Wettstein.

 

Die Nachfrage nach den Veranstaltungen hat mit der Lockerung der Pandemie-Regeln sofort wieder eingesetzt. Allerdings mit beschränkter Teilnehmerzahl und unter Berücksichtigung der Abstandsregeln. Auch für Uwe Willamowski ist das Rahmenprogramm enorm wichtig: „Die Lesungen, Diskussionsrunden oder auch die Vorstellungen neuer technischer Hilfsmittel haben mich immer wieder dazu gebracht, mit meinem Rollstuhl durch diese besondere Museumsetage zu kurven.“ Die besondere Präsentation der Exponate für Menschen mit Beeinträchtigungen lädt regelrecht dazu ein und sei in der Museumslandschaft einzigartig, schwärmt Willamowski. Wo schon gäbe es so konsequent Video- und Audio-Unterstützung, mit Textuntertitelung und Gebärdendolmetscher, gut lesbar in leichter Sprache und gut einsehbar selbst für Rollstuhlfahrer? Auch deshalb habe der Landesbehindertenverband sogar zu einer Vorstandssitzung in diese Räume eingeladen. 

 

2. Reisen für alle - Stadtmuseum Halle wird zertifiziert


Mobilität und Reisen gehören zu den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart. Und doch stoßen vielfach Menschen mit Beeinträchtigungen auf immer wieder auf hohe Hindernisse. Solche Barrieren zu erkennen und zu umschiffen, sollte Anliegen gerade auch an touristischen Orten wie Hotels, Ausflugsorte, Flussdampfer oder auch Museen sein. Wer sich darauf konsequent einstellt, dem kann das bundesweit einheitliche Zertifikat „Reisen für alle“ verliehen werden. Das Stadtmuseum Halle wird als erste touristische Einrichtung in der Saalestadt damit ausgezeichnet und erhält am 6. August 2020 die entsprechende Urkunde. Museumsdirektorin Jane Unger: „Wir als Stadtmuseum Halle wollen ein Museum für alle Menschen sein. Das setzt voraus, dass sich die Menschen mit ihren Geschichten im Museum wiederfinden - so wie in unserer aktuellen Sonderausstellung Geschichten, die fehlen, in der über 30 Menschen mit Beeinträchtigungen zu Wort kommen. Zum anderen ist es wichtig, dass alle Menschen in unserem Museum etwas erleben und erfahren können -  unabhängig davon, ob sie blind, gehörlos, im Rollstuhl unterwegs sind oder ob sie Lernschwierigkeiten haben. Ich bin froh, dass wir mit dem Gütesiegel „Reisen für Alle“ Zugänge und Barrieren in unserem Haus transparent machen, damit beeinträchtigte Menschen ihren Besuch bei uns planen können.“
 
3. Mit eigenem Erleben Lücken füllen - Die Ausstellung hat Zuwachs bekommen

 

Den Ausstellungstitel Geschichten, die fehlen... haben drei Besucherinnen wörtlich genommen und mit ihren Objekten und sehr persönlichen Beschreibungen die Exposition weiter ergänzt. „Solche Reaktionen haben wir uns ausdrücklich gewünscht“, beschreibt Mit-Kuratorin Elke Arnold eine wesentliche konzeptionelle Idee. „Für uns sind das spannende Entdeckungen, die wir durch die neuen Geschichten machen durften“.


Und diese Geschichten fehlen nun nicht mehr:

 

Katharina Kirch hat ein Tagebuch ausgestellt, das sie auf einer Kunstreise durch Griechenland geführt hat. Darin beschreibt die heute 33jährige ihre schönste Klassenfahrt. „Ich ging von der 9-12 Klasse in die Freie Waldorfschule in Halle. Ich bin mehrfach behindert, habe einen Luftröhrenschnitt und sitze im Rollstuhl. Die Kunstreise konnte ich nur Miterleben durch die tolle Hilfsbereitschaft meiner gesamten Klasse. Mit ganz vielen Malutensilien im Koffer ging es mit Bahn, Bus und Flugzeug durch Griechenland... Für mich war das gelebte Inklusion.“

 

Kirsten Schott steuerte ein Diamant-Bild der Ausstellung bei. Das hat Kirsten Schotte auf Anraten ihrer Ergotherapeutin hergestellt. Die Frau aus Halle erlitt im letzten Jahr einen Schlaganfall. Der hat das Leben der 58jährigen komplett verändert. Um ein solches Bild zu schaffen, braucht es viel Konzentration und Fingerspitzengefühl. „Ich kann seit den Schlaganfällen nur noch am Stock laufen bzw. mich im Rollstuhl fortbewegen. Deshalb steht das Bild für die Kreativität und das Engagement der Menschen, die meinen Genesungsprozess begleiten.“

 

Auch Valeria Sivtsova hat sich mit einem Bild an der Ausstellung beteiligt. Ein „besonderes Bild“, wie sie selbst sagt. „Es wurde mit vier Freunden zusammen gemalt, die für mich immer da sind und mich auch in den Zeiten der akuten Episode der Krankheit unterstützt haben.“ Die Endzwanzigerin leidet an einer chronischen Psychose, die in erlebter häuslicher Gewalt ihre Ursache hat. Um ihr tiefes Trauma zu bewältigen, malt die junge Frau, deren Bilder bereits in anderen Ausstellungen zu sehen waren.

 
4. Dumme Fragen?

 

Fest zum Konzept der Ausstellung Geschichten, die fehlen gehört die Rubrik Dumme Fragen. Nur selten werden sie offen gestellt, obwohl sie im alltäglichen Zusammenleben doch immer wieder auftauchen. Besucherinnen und Besucher haben dutzende Kärtchen ausgefüllt. Zum Abschluss der Ausstellung Ende August sollen die meisten dieser Dummen Fragen dann von kompetenter Seite beantwortet werden. Hier nur zwei Beispiele:


Frage: Wie verhalten sich blinde Menschen bei einem ersten Date?

Antwort: Unsicher, wie andere Menschen auch. Besser ist, man teilt dem anderen Menschen vorher mit, dass man blind ist. Dann kann sich dieser Mensch darauf einstellen und entscheiden, ob eine Beziehung mit einem blinden Menschen für ihn überhaupt in Frage kommt.

 

Frage: Ist es leicht, sich in Halle als Rollstuhlfahrer/-in zu bewegen und selbstständig zu sein oder gibt es noch viele Barrieren?
Antwort: Es geht ganz gut, wenn man sich auskennt und seine gewohnten Wege fährt. Kopfsteinpflaster in der Altstadt ist schlecht, da merkt man jeden Stein. Und wenn es regnet, ist es rutschig. Die Zugänglichkeit von kleineren Ladengeschäften ist fast durchgängig schlecht. Da muss man dann einen Passanten bitte, ob er einen Verkäufer aus dem Laden holen kann. Schlecht ist auch, wenn an abgesenkten Bordsteinen Autos geparkt werden.

Pressebüro Lies
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.
Weitere Informationen